Ein Express-Abendkleid
Normalerweise haben wir für die Anfertigung eines Abendkleides etwa fünf Wochen Zeit. Das ist ideal, um ohne Druck und in ruhigen Bahnen arbeiten zu können. Auch wenn ein Stoff nicht sofort lieferbar ist, genügt die Zeit, um die Lieferung abzuwarten, oder ein Ersatzmaterial zu organisieren.
Doch bei unserem letzten Auftrag für ein Abendkleid lief das etwas anders. Am 22. Oktober erreichte mich spät Abends eine SMS mit einem Hilferuf. Dominika hatte ihr Abendkleid eben anprobiert und festgestellt, dass sie nach der Geburt ihres Sohnes einfach noch nicht wieder ihre alten Maße hat. Das Kleid ging zu, aber sitzen war eine Qual. Könnten wir wohl das Kleid bis zum 31. Oktober erweitern?
Aber natürlich! Da ich Dominika und ihren Mann seit vielen Jahren kenne, verabredeten wir uns für Sonntag: Ich würde die beiden in Leipzig besuchen, den Familienzuwachs bewundern und dabei eben auch das Kleid begutachten.
Zwanzig Minuten später erhielt ich ein Foto, von einem ganz anderen Kleid: „Oder könntest Du so ein Kleid bis nächsten Samstag nähen?“
Später erzählte man mir, sie hätten nie damit gerechnet, dass ich diese Frage mit „ja“ beantworte. 🙂
Also hatte ich Freitagmorgen die Aufgabe Stoffmuster zu suchen beziehungsweise zu bestellen. Fucotex, einer unserer liebsten Lieferanten, war so lieb und versandte die Muster noch am gleichen Vormittag, damit sie auch samstags bei mir eintrafen. Und ja es klappte!
Sonntagmorgen ging es samt einer Tüte voller Stoffmuster und die Samstags noch zusammen genähten Probekorsage nach Sachsen.
Dominika hatte noch immer den Plan sich eine Woche lang mit Hunger zu quälen um am Samstag dann in ihr Abendkleid zu passen, dass wir ihr vor acht Jahren angefertigt hatten. Doch meine Stoffmuster überzeugten: Daraus lässt sich etwas zaubern!
Natürlich hatte ich nur Muster von Lieferanten dabei, von denen ich wusste, sie liefern zuverlässig binnen 24 Stunden. Denn Montagmorgen bestellen und Samstagabend mit dem Kleid auf dem roten Teppich stehen wollen, heißt Gas geben.
Also probierten wir auch gleich noch die Korsage an. Somit konnten wir im Erlanger Atelier bereits am Montag den Unterbau für das Abendkleid fertigen: Eine aus zwei Lagen Futter gefertigte Korsage, die später mit einem Hakenband schließen sollte.
Montagabend schrieb ich einen minütiösen Plan für Dienstag. Wer wann welche Aufgaben ausführen müsste, damit wir zu einer bestimmten Uhrzeit Teile zusammen führen könnten, um so am Ende des Tages eine zweite Anprobe in Händen zu halten.
Es klappte wie am Schnürchen! Zu viert arbeiteten wir Hand in Hand. Jede von uns gab fünf Stunden Vollgas und um 16 Uhr saß ich samt meinem treuen Begleiter Coco wieder im Auto Richtung Leipzig.
Dominika traute ihren Augen nicht, als sie meine Nachricht las: „Bin unterwegs! Navi sagt 18:30 Uhr Ankunft.“
Mittwoch und Donnerstag sollten die beiden intensivsten Tage werden. Jetzt war verarbeiten angesagt. Wir motzte den Tüllrock nochmal um das gleiche Volumen auf, dass wir Dienstags gearbeitet hatten und die Spitze musste auf der Korsage komplett per Hand aufgearbeitet werden. Abends nahm ich das Oberteil mit nach Hause vor den Fernseher, wo ich nochmals drei Stunden damit zu brachte das Futter ins Oberteil einzustaffieren.
Donnerstagmorgen dann also die Montage von Rock an Oberteil/Spitze. Und jetzt wurde es schwierig. Wie gestalten wir das Kleid? Wie genau verläuft die Spitze und wie erzeugen wir einen „auslaufenden“ Effekt? Selbst Dominika im fernen Leipzig wurde nervös und schickte nochmal zwischen Kinderversorgung und außer Haus Terminen eine kleine Zeichnung.
Das Mittagessen nutzten wir als Reset: Wir hatten den Rock gestaltet, aber noch nicht verarbeitet und wollten die 45 Minuten nicht über das Kleid nachdenken, um dann mit frischen Blick darauf schauen zu können. Worst case: Vier Mädels waren unzufrieden. Also von vorne!
Um 14:30 Uhr waren wir endlich soweit die Spitze auf den Rock nähen zu können. Zu viert arbeiteten wir gleichzeitig an allen Ecken und Enden…
Die letzten 90 Minuten ging es zu wie in einem OP: Während ich die letzten Handnähte tätigte – Rockfutter einstaffieren und Taillenband einnähen – hielt mir Eszter das Kleid so fest, dass ich gut arbeiten konnte und Barbara fädelte auf Zuruf die nächste Nadel mit dem gerade benötigten Garn ein.
Um 17:40 Uhr war es dann so weit: Das Kleid ging ein letztes Mal bei uns im Atelier auf die Puppe. Wenn es uns jetzt gefallen sollte, würde ich ins Auto hüpfen und ab auf die Autobahn flitzen.
Ja, vier zufriedene Schneiderinnen blickten auf 35 Meter Tüll, wunderschöne Spitze und das Werk von insgesamt 65 Stunden Arbeit.
Zwei einhalb Stunden später, gab es in Leipzig eine junge Frau, die sich wie eine Prinzessin fühlte und mit dem Gedanken spielte im Abendkleid den Abwasch zu erledigen – denn ausziehen war keine Option! 🙂