Wo lernt die Maßschneiderin noch was dazu?
Haben Sie eine Vorstellung, woher Handwerker ihr Wissen beziehen?
Wie stellen Sie sich Fortbildungsmaßnahmen im Fach des Maßschneiders vor?
Nein, Literatur gibt es quasi keine. Es gibt das ein oder andere Schnitt-Buch. Es gibt haufenweise Laien-Literatur „Wie nähe ich einen Rock?“, „Taschen und Jutebeutel selbstgenäht“… Und endlose Reihen an Näh-Zeitschriften, die bekannteste ist wohl die „BURDA“.
Doch von diesem „Näh-Wissen“ spreche ich nicht.
Wo habe ich gelernt, wie ich einer kleinen Querfalte begegne, die sich am Sakko vom Halspunkt richtung Achsel spannt. Wer sagte mir, dass die Lösung nicht sein kann, den Brustabnäher über den Brustpunkt zu verlängern, sondern dass ich im Gegenteil den Abnäher flacher ausnähen muss, dafür meinen Torso insgesamt enger machen kann? Wann habe ich gelernt, dass Dressur nicht nur mit dem Reitsport zu tun hat?
Natürlich sind das Themen, die mir in meiner Ausbildung begegnet sind. Doch unser Beruf ist von anhaltender Einmaligkeit geprägt. Wie selten ergibt sich die gleich Herausforderung an zwei Kleidungsstücken, bei zwei Kunden? Meist hilft mir nur von einem Problem Analogien zum nächsten zu ziehen. Und dann gibt es da die „ewigen Geheimnisse der Schneiderei“ – man steht plötzlich vor einem zu engen Teil und kann nicht mehr nachvollziehen, wo die fehlenden zwei Zentimeter abgeblieben sind…
Wo die eigene Erfahrung fehlt, hilft nur die der Kollegen weiter. Und damit dieser Erfahrungsaustausch überhaupt zu Stande kommt, haben wir unsere Innungen.
In der Maßschneiderinnung Nürnberg, Erlangen, Fürth treffen wir uns alle sechs bis acht Wochen. Natürlich gibt es oft irgendwelche administrativen Dinge zu klären. Doch zumeist haben wir ein Thema zu dem eine von uns referiert und die anderen mit einbringen, was ihnen dazu einfällt. Einmal ist es „der perfekte Ärmelschnitt“ ein ander Mal der „unzerreißbare Schlitz“ oder auch „das handgestochene Gimpen-Knopfloch“.
Damit wir nicht in unserer eigenen Suppe versauern trifft man sich nicht nur im eigenen Landkreis sondern alle zwei Jahre auch auf Bundesland-Ebene. Der Landeinnungsverband Bayern ist einer der umtriebigsten der Republik und im Juni 2016 gab es wieder ein höchst anregendes Treffen. Diese Jahr wurde als Tagungsort Selb gewählt.
Selb gehört zu den ehemalige Porzellan-Hochburgen. Und als Handwerkerin guckt man gerne den Kollegen der anderen Fachrichtungen über die Schulter. So hatten wir das Glück nicht nur in den wundervollen Räumlichkeiten des „Porzillanikons“ tagen zu dürfen, sondern dort auch zu dinieren und zu guter Letzt auch noch eine überaus spannende Führung durch die ehemalige Fabrikation zu erhalten.
Ich hatte den Anreise-Samstag genutzt einen kleinen Umweg über Ölsnitz gemacht und Willo Steen und Rolf Schneider besucht. Seitem die beiden mit ihrem Stoff-Verlag „STEEN Design“ in ihr altes Landratsamt gezogen sind, sieht man sich viel zu selten. Wir trudelten also alle in Selb ein und bekamen ein feines drei Gänge Menü mitten im Museum serviert. Eine faszinierende Umgebung für ein solches Treffen!
Bereits bei diesem gemeinsamen Abendessen entspannen sich Diskussionen über Materialien, Verarbeitungstechniken und Lieferanten. Aber auch Themen wie Preisgestaltung, Angebotserstellung oder Rechtssicherheit kamen auf den Tisch. Und selbstredend wurde in alten Zeiten geschwelgt, Schwänke verzählt und viel gelacht.
Der Sonntag begann dann strukturierter. Begrüßung durch die gastgebende Obermeisterin, durch die Landesinnungs-Obermeisterin und durch den Handwerkskammer Präsidenten. Der nächste Punkt war dann schon gleich viel spannender: Die Kolleginnen stellten Trachten-Modelle vor, die sie nach historischen Vorlagen erstellt und neu interpretiert hatten. Hier sind es die Details, die uns in Begeisterung versetzen. Oder dann so etwas außergewöhnliches, wie der per Hand behäkelte Sonnenschirm. Das gehört ja nicht so ganz ins nähende Fach. Da gucken wir dann schon zwei Mal hin.
Die Tagesordnung war taktisch klug gewählt, denn Punkt drei fand ich noch spannender: Helga Freier fliegt jedes Jahr zu den Haute Couture Schauen nach Paris und bringt immer Bildmaterial mit. Vor allem arbeitet sie ihre Eindrücke so auf, dass wir in einem kurzen „Mode-Bericht“ alles Wissenswerte der neuen Trends mitnehmen können. Da skiziere ich mir dann gerne die ein oder andere Idee ab, ein paar Stichpunkte hier, ein kleiner Hinweis dort… Hier ist der Pool für die neuen Designs und Ideen!
Nach der Mittagspause, die natürlich überzogen wurde, weil genau in diesen Momenten mit der wertvollste Austausch statt findet, ging es weiter mit dem Thema „Plissieren“.
Eigentlich hätte ein Lieferant vorbei kommen sollen und seine Möglichkeiten vorstellen sollen. Ich habe nicht verstanden ob wir ihm zu uninteressant waren, oder der Lieferant Angst hatte, wir könnten sein Know-How abgreifen. Er erschien jedenfalls nicht, hatte uns aber eine Kiste mit Musterlaschen gesandt. Wow! Wir verarbeiten schon mal Falten-Plissées oder auch ein Sonnen-Plissée, aber was der drauf hat…
Glücklicherweise hat unsere Obermeisterin Judith Waldmüller just mit diesem Lieferanten zusammengearbeitet und konnte ein plissiertes Hochzeitskleid mitbringen. Auch wenn mich die Möglichkeiten des Lieferanten beeindruckt haben, der Austausch über die Herausforderungen in der Anfertigung dieses Kleides waren wieder die wertvolleren Informationen.
Der letzte Tagungspunkt vor der Führung durch das Porzellanikon war mein Highlight. Die Herrenschneidermeister Albrecht und Häberle hatten sich beide ein Sakko vorbereitet, dass sie jeweils vom Kollegen anprobieren ließen. Wir Damen umringten sie – leicht aufdringlich, damit uns nichts entging – und bombadierten die beiden während ihrer Arbeit auch noch mit Fragen. Tja, Anproben sind eh Königsdisziplin, aber wenn einem eine Meute Kollegen im Genick sitzt, wird´s zur Weltmeisterschaft. 🙂
Oft sind es die kurzen Nebensätze, die mir die Augen öffnen. Ein kleiner Handgriff, der mir ein verdutztes „Aha!“ entlockt.
Die Führung durch das riesige Areal des Porzellanikon stopfte mir die letzte Hirnwindung voll mit Informationen. Warum man eine Zuckerdose, dessen Ärmchen beim herausnehmen aus der Form verbogen wurde, gar nicht mehr zu brennen braucht. Wieso die Porzellan-Herstellung heute noch in weiten Teilen so ist, wie vor hunderten von Jahren. Wie umfangreich der Sektor des Dekors ist…
Ein Tag, an dem die Heimfahrt der „Kopf-Beruhigung“ diente.
…und ein Sonntagabend an dem ich so schnell einschlief wie selten.