Lieblingsjacke reloaded
Einer der häufigsten Gründe, dass Menschen zum Maßschneider gehen, ist ein dahin siechendes Lieblingsstück. Das kennt jeder: Man hat eine Lieblingsjacke, die man trägt, trägt und trägt. Und natürlich sieht man ihr das mit der Zeit an.
Der Stoff verliert an Glanz, vielleicht zieht er Fäden. Er stößt sich an den Ärmelsäumen ab, im Futter reißt die Tasche ein. Peux à peux verliert das geliebte Stück an Form, Farbe und Fitness. Irgendwann traut man sich die Jacke nicht mehr in der Öffentlichkeit zu tragen. Aber davon trennen? Sie gar weg werfen? Nein, das geht auch nicht! Zu sehr hängt man an dem geliebten Stück.
Gisela N. hatte so eine Jacke. Und die Konfektion hatte nicht einmal etwas entfernt Ähnliches zu bieten. Also nahm sie die Lieblingsjacke mit zu uns und bat um Reproduktion.
Im gemeinsamen Gespräch fand ich heraus, dass neben dem Schnitt vor allem die Leichtigkeit der Jacke so geliebt wurde. Es ging gar nicht darum zwingend das gleiche Material zu finden. Außerdem – wenn man schon bei „Wünsch Dir was“ ist – wollte Gisela gleich einen Stoff, der zu vielen Farben passt. Aber er sollte dennoch rot dominiert sein.
Es ist die eine Aufgabe, der Kundin zu entlocken, was für Vorstellungen in ihrem Kopf sind. Die andere ist, dann dieses Material auch aufzutreiben. Ganz ehrlich? Ich wusste zwar recht schnell, was wir brauchen würden – einen Chanelstoff, aber am besten aus Baumwolle, Wolle wäre zu warm – doch wusste ich auch, dass keiner meiner Lieferanten so einen Stoff im Sortiment hat.
Es war eher Verzweiflung, dass ich das Musterbuch von Barth und Könenkamp durch ging. Und dann fiel mir ein Seidentweed in die Hände. Wow! Leicht und bunt. Ob es den noch gibt? – Mein Musterbuch ist inzwischen 15 Jahre alt 🙂
Es gab nicht nur den Tweed, so wie ich ihn im Musterbuch hatte, sondern gleich acht verschiedene Farbstellungen. Yeah!
Bestellt, genäht, anprobiert.
Bei der Anprobe kam noch zum Tragen, dass die Originaljacke aus einem elastischen Material gefertigt war. Der Tweed saß ein bisschen eng… Zum Glück arbeitet der weise Maßschneider mit anständigen Nahtzugaben. Dann kann man auch problemlos für etwas mehr Luft sorgen.
Eine kleine Schnittabwandlung wurde bei der Anprobe auch noch entschieden: Der Schalkragen bekam eine einverstürzte Reversecke. Lockert die Sache noch ein bisserl auf und gibt Pepp.
Hätte ich nun ein Foto von der Ursprungsjacke, würden Sie vielleicht gar nicht auf die Idee kommen, dass diese beiden Jacken „gleich“ sind. Sie sind eben in den Punkten gleich, die Gisela am Herzen liegen: eine leichte Jacke, mit einem angenehmen Schnitt, die jeder Zeit tragbar ist.