Ein Maßteil in elf Schritten
Immer wieder werde ich gefragt: „Wie geht das bei Euch den so vonstatten?“
Bereits im Juni 2009 habe ich diese Antwort schriftlich fixiert – und musste sehr schmunzeln, als ich letztens über das Word-Dokument gestolpert bin 🙂
Die elf Schritte sind heute noch genauso gültig wie vor fünf Jahren. Wahrscheinlich sind es die gleichen elf Schritte, die Ihnen vor 50 Jahren jeder andere Maßschneider aufgezählt hätte. Daher gerne für alle Interessierten nun einmal in aller Öffentlichkeit:
Kleidung nach Maß – elf Schritte zum Unikat
1.) Bei unserem ersten Treffen steht die Frage: „Wer wollen Sie sein, wie wollen Sie sich fühlen, wenn Sie das von uns geschneiderte Kleidungsstück tragen?“ im Mittelpunkt. Auf Grund Ihrer Wünsche und Vorstellungen erstellen wir Ihnen eine Zeichnung , suchen den Oberstoff aus und notieren Ihre Maße.
2.) Nach unserem Treffen erstellen wir Ihnen ein Angebot zu Ihrem Wunsch-Outfit. Wir zeichnen die gemeinsam erstellte Zeichnung noch mal „schön“. Dazu bekommen Sie eine detaillierte Beschreibung und eine Kalkulation des Arbeitsaufwands, der Stoffe und Zutaten.
3.) Wenn unser Angebot Ihren Vorstellungen entspricht – und Sie uns grünes Licht gegeben haben – beginnen wir mit der Schnitterstellung. Viele Menschen sind der Meinung, so ein Schnitt, der da nach meinen Maßen erstellt wird, passt dann auch direkt zu 100%. Dem ist nicht so: Zum einen sind viele Eigenheiten eines Körpers einfach nicht in Zentimetern zu messen und zum anderen gibt sich auch jeder Stoff anders. Das bedeutet, dass sogar ein vielfach probierter Schnitt in einem anderen Stoff eine ganz andere Passform ergeben kann.
4.) Ist der Schnitt erstellt wird eine Anprobe hergerichtet. Meist verwenden wir hierfür einen Probestoff, eine günstige Baumwolle, einen Nessel. Auf diesen Stoff kann bei der Anprobe z.B. die Taschenlage eingezeichnet werden. Somit können wir die Details in einem sehr frühen Stadium ohne Materialverlust visualisieren.
Bei der ersten Anprobe werden insbesondere folgende Punkte beachtet:
Wie ist es um die Balance bestellt? Ist die Jacke an Ihre mehr oder weniger geneigte oder aufrechte Haltung angepasst? Muss für einen schönen Fall der vorderen Kante das Vorderteil an der Schulter herein oder heraus geschoben werden? Wie ist es um Ihre Bewegungsfreiheit bestellt? Sind eventuelle Asymmetrien honoriert worden?
Von Ihrer Seite aus ist es für uns wichtig, ob Sie sich in der Jacke wohlfühlen. Können Sie bereits das „Ziel“ erkennen? Haben Sie den Eindruck, dass wir auf dem richtigen Weg sind?
5.) Jetzt erfolgt der wohl wichtigste und diffizilste Schritt der Maßarbeit. Hier ist alles Know How gefragt!
Der Schnitt muss angepasst werden. Wie entfernt man einen Schrägzug, eine Falte, die schräg über ein Schnittteil läuft? Was mache ich, wenn der Busen mehr Weite braucht, ein weiterer Abnäher aber nicht in Frage kommt?
Die Veränderungen werden in den Schnitt übertragen. Leider ist es nicht möglich jede Veränderung zu 100% im Schnitt fest zu halten, da es Veränderungen gibt, die nur über die Verarbeitung erreicht werden.
z.B. das Thema Brust: Um eine angenehme Weite für die Brust zu erreichen wird der Stoff des Vorderteils auf Höhe des Busens eingehalten. Dieses „Einhalten“ kann man nicht schriftlich fixieren, eine Angabe in Zentimetern ist zumeist nicht möglich – zudem ist dies extrem abhängig von der Stoffqualität.
Das Wissen über solche Verarbeitung wird von Meister zu Gesellen, von Generation zu Generation weitergegeben. In der Konfektion wird auf solche Dinge gar nicht geachtet, daher findet sich in den meisten Konfektionsjacken zu wenig Busen.
6.) Nun wird der „richtige“ Oberstoff zugeschnitten. Auch erfolgt jetzt das Einrichten. Unter dem Einrichten versteht man den Zuschnitt des Innenlebens und desseb Vorbereitung für die weitere Verarbeitung. Zum Teil werden auch die einzelnen Schnitteile bereits mit dem Innenleben verbunden.
Um beim Beispiel Kostüm-Jacke zu bleiben: Das Roßhaar wird unter die Vorderteile geschlagen, das Revers wird pikiert, die vordere Kante lisiert. Der Torso wird gesteppt, etwaige Taschen eingearbeitet, Kragen und Revers verstürzt und die Ärmel verarbeitet. Dieser Schritt umfasst zeitlich den größten Aufwand.
7.) Bei der zweiten Anprobe werden die Erfolge des Anpassens überprüft. Zudem wird der Sitz des Ärmels kontrolliert, der jetzt in die Jacke eingeheftet ist.
Hier ist es nun von entscheidender Bedeutung, dass Sie sich wohl fühlen und dass Sie ihr Wunschoutfit richtig umgesetzt finden.
8.) In diesem achten Schritt wiederholt sich Schritt 5: Alle Wünsche und Veränderungen, die sich aus der zweiten Anprobe ergeben haben werden nun in Ihr Stück eingearbeitet. Wenn uns nicht der Stoff einen Streich spielt oder sonstige ungeahnte Schwierigkeiten auftauchen, halten sich die nötigen Veränderungen hier meist in Grenzen.
9.) Zuletzt ist es ein reines „fertig machen“. Hier sind es viele Handarbeiten und einzelne Arbeitsschritte, die das Werk vollenden.
10.) Sie haben über neun Schritte und drei vorangegangene Treffen das Entstehen Ihres Traum-Outfits begleitet. Zum guten Schluss treffen wir uns nochmals zur sogenannten Fertigprobe. Und? Haben wir unser gemeinsames Ziel erreicht? Eine rethorische Frage, wie ich zugeben muss 🙂
11.) Manchmal findet man bei dieser letzten Anprobe noch eine Kleinigkeit, die man gerne beheben möchte. Sollte dies der Fall sein, bekommen Sie Ihr Maß-Unikat dann per UPS geliefert – anderenfalls haben Sie es bei unserem letzten Treffen bereits mit zu sich nach Hause genommen. Der elfte Schritt bedeutet für mich Computerarbeit: Ich schicke Ihnen Ihre Rechnung und freue mich auf einen baldigen Zahlungseingang 🙂
…und falls bei Ihnen jetzt schon die nächsten Fragen enstehen: „Ich wohne in Hamburg! Geht das auch?“ – „Ich brauche regelmäßig Anzüge. Müssen wir uns für jeden Anzug vier Mal treffen?“ – dann gucken Sie bald mal wieder rein. Schöne Fragen, zu denen ich gerne Auskunft geben werde.