"Diktat der Etikette"
So titelt das Manager Magazin einen vier seitigen Artikel.
Allerdings werden hier mit großen Worten Behauptungen aufgestellt, die nicht unbedingt stimmen: Das Maßhemd hätte keine Brusttasche. Wer nun denkt, dass man ein Maßhemd an der fehlenden Brusttasche erkennt – leider falsch. Das Fehlen der Brusttasche ist ein Indiz für ein Hemd, das nicht älter als drei, vier Jahre ist. Seither ist es modern das Hemd ohne Brusttasche zu tragen. Ebenso ist der Hinweis, dass Monogramm befände sich knapp über dem Hosenbund, nicht ganz richtig. Das Monogramm wird – und auch das ist eine reine Modeerscheinung – auf Höhe des vierten Knopfes angebracht, was bei den meisten Herren etwa auf Höhe des untersten Rippenbogens liegt. Trägt der Herr nun seine Hose „hoch genug“ befindet sich das Monogramm dann tatsächlich knapp über dem Hosenbund. Bei der aktuellen Mode zwar eher unwahrscheinlich – Mann trägt die Hose gerade gerne sportlich tief wie eine Jeans – aber natürlich möglich 🙂
Im ersten Absatz des zweiten Teils wird´s dann richtig lustig: So wird vorhergesagt, dass der Kollege gemobbt werden könne, wenn er rosafarbene Hemden präferiert („Wohl beim Christopher Street Day gewesen?“). Angesichts der Tatsache, dass rosafarbene Hemden vor etwa zwei Jahren topmodern waren, ist diese Satz schlichtweg Blödsinn.
Überhaupt ist der Eingangssatz „Wer sich nicht anpasst, der eckt an.“ falsch.
Die Kunst heißt: Kenne die Regeln – dann kannst Du sie brechen. Das natürlich in einem gewissen Maße.
Wer aber diese Kunst beherrscht, der zeigt Profil, macht gekonnt auf sich aufmerksam, wird als selbstbewusst, willensstark und attraktiv betrachtet. Ich gehe so weit zu behaupten: Wer nach oben will, muss sich genau dieses Know How zu Eigen machen.
Im dritten Teil des Artikels erfährt der geneigte Leser über die traurigen Auswüchse verfallender Etikette. Wieso muss man den Mitarbeiterinnen eines Unternehmens vorschreiben, dass ein Kleid nicht über dem Po spannen soll? Das erklärt sich wahrscheinlich darüber, dass es heute „schick“ ist, sich in die kleinstmögliche Konfektionsgröße zu quetschen. Die Erfindung der Stretch-Stoffe befeuerte diese Entwicklung noch.
Mode ist heute nicht mehr nur Optik, sondern auch Trageempfinden. Dazu gehört, dass alles „bequem“ sein muss. Darunter versteht man übrigens nicht, dass man sich gut in der Kleidung bewegen kann, sondern, dass man sie nicht spürt. Doch gerade ein Kleid, dass ich beim Tragen spüre, weil es zum Beispiel am Armloch schmal sitzt, erlaubt mir auch meinen Arm zu bewegen. Ist das Armloch groß und tief ausgeschnitten, bewegt sich bei jeder Bewegung das ganze Kleid mit sich. Von der dann entstehenden Optik ganz zu schweigen.
Der vierte Teil des reißerischen Artikels gibt den Hinweis, dass man „gut gemachte Kleidung an Kleinigkeiten wie den Nähten erkennt. Die weisen bei Hemden, so sie maßgefertigt sind, ungefähr zehn Stiche per Zentimeter auf; bei Oberstoffen für Anzüge oder Kostüme müssen es drei bis vier Stiche sein.“
Ach Leute! Sooo stimmt das einfach nicht. Es spielt keine Rolle ob es ein maßgefertigtes Hemd ist, in der Weißschneiderei (alles was klassisch weiß ist und Kochwäsche ist, also Hemden, Schlafanzüge und Morgenmäntel) ist der kleine Steppstich Pflicht. Nur so kann gewährleistet werden, dass das Stück viele Wäschen überlebt. Eine Stichlänge von 2 bis 4mm bei allen weiteren Oberbekleidungsstücken ist so normal, dass sich diese selbst bei einem billig Erzeugnis von kik und Konsorten findet. Folglich ist das sicher kein Hinweis auf gute Kleidung oder gar Maßkleidung.
Wenn Herr Jürgen Großmann seine Anzüge mit Absicht zu groß anfertigen lässt, damit es wirkt als hätte er 10kg abgenommen: Oh bitte, bitte! Erschießt seinen Schneider! Das darf doch nicht wahr sein! Nichts macht schlanker und attraktiver als ein passendes Kleidungsstück…
Und zu guter Letzt, die Abhandlung über die Damen in der Topriege, die sich im Einheitsgrau der Herren zu verstecken versuchen. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass diese Damen vor lauter Arbeit das Gefühl Ihrer Weiblichkeit verloren haben? Würde hoher Posten zwingend androgyne Kleidung bedeuten, müsste Queen Mum aber seit Jahren eine recht rebellische Führerin sein.
Etikette ist ein Synonym für ein gesellschaftliches Reglement, das uns das Leben vereinfacht. Würde dieses Wissen noch so von Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden, wie das zur Zeit unserer Großeltern geschah, wäre manche Situation einfacher. Wie schon geschrieben ist es meines Erachtens genau dieses Wissen, was benötigt wird, wenn man „ganz nach oben“ will. Und wenn man mit Menschen spricht, die diese Klaviatur beherrschen, erkennt man: Etikette diktiert nicht – sie inspiriert.